Freizeitparks überbieten sich heutzutage mit actionreichen Attraktionen und immer mehr Glitzer und Glamour. Umso schöner, dass sich jener auf der New Yorker Halbinsel Coney Island seinen morbiden Charme bis heute bewahrt hat – auch in kulinarischen Fragen übrigens. Eine Hommage an den „betrunkenen Opa von Disney Land“ – wie manch ein New Yorker den Park nennt – der die Rolltreppe salonfähig und vielen Kindern in Brutkästen das Leben rettete.
Life is a Roller Coaster
Mit Achterbahnen und mir ist das so eine Sache. Ich brauche sie nicht, weil ich Höhenangst habe, die sich in Kombination mit den erreichten Geschwindigkeiten und G-Kräften in ungeahnte Sphären steigert. Umso weniger Verständnis bringe ich für diejenigen Menschen auf, die die in die Jahre gekommene Cyclone-Achterbahn von Coney Island besteigen. Brauchen sie noch mehr Nervenkitzel als eine solche Höllenfahrt ohnehin schon liefert? Haben sie mit dem Leben bereits abgeschlossen? Ein Blick auf das Foto unten erklärt diese Gedanken vielleicht ein wenig, die beunruhigenden Geräusche, die das teils morsche Holz der 1927 erbauten Bahn bei der Fahrt erzeugt, tun ihr Übriges für mein Kopfkino hier auf Coney Island.
Coney Island: Vom Seebad zum Problemviertel
Aber auch ansonsten ist der hiesige Freizeitpark nicht mehr ganz taufrisch. Zwar in guter Lage, unmittelbar am 6,5 Kilometer langen Atlantik-Strand der Halbinsel Coney Island am südlichen Ende Brooklyns gelegen, lockt er heute deshalb lange nicht mehr so viele Besucher und Schaulustige an, wie zu seinen besten Tagen. Standen hier Ende des 19. Jahrhunderts drei Pferderennbahnen sowie zahlreiche Bars und andere, noch schlüpfrigere Etablissements, entwickelten sich Strandpromenade und Seebad der „Kanincheninsel“ – wie die frühen holländischen Siedler sie aufgrund der vielen Karnickel genannt hatten – rasch zum Problemviertel. Sogar Al Capone arbeitete in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts hier als Rausschmeißer und Barkeeper in der Spelunke „Harvard Inn“ und startete damit seine „Karriere“.
Fast Food, Fischrestaurants und Hot Dog-Wettessen
Um die Jahrhundertwende hatten die ersten Fahrgeschäfte und Schießbuden hier eröffnet und auch der berühmte Biergarten des deutschen Auswanderers Charles Feltman, der 1867 mit einer Würstchenbude auf Coney Island startete und anschließend den Hot Dog hier erfand, erlebte damals seine Blütezeit. 1916 eröffnete schließlich Nathan Handwerker, der bei Feltman zuvor die Brötchen für die Hot Dogs aufgeschnitten hatte, einen eigenen Stand mit dem einfachen Konzept, die Wurst im Brot zum halben Preis anzubieten. Dank dieses Schachzuges und der geheimen Würzmischung in den Würstchen etablierte sich Handwerker rasch und so legte der osteuropäische Auswanderer den Grundstein für sein später eröffnetes Restaurant „Nathan´s Famous“. Mittlerweile hat sich Nathan´s gar zur größten Hot Dog-Kette New Yorks entwickelt und betreibt neben einer weiteren hier an der Promenade auch zahlreiche andere Filialen in den Staaten sowie über die US-Grenzen hinaus. Im Stammhaus in der Surf Avenue, kurz hinter der Promenade gelegen, findet zudem das weltberühmte Hot Dog-Wettessen statt – der Rekord steht bei 73 Hotdogs in zehn Minuten – und lockt jährlich tausende Schaulustige an.
Brutkästen als Attraktion retten tausende Frühgeborene auf Coney Island
Alles in allem entwickelte sich bis zum zweiten Weltkrieg mit dem „Luna Park“, der 1944 abbrannte und 2010 wiedereröffnete, der größte zusammenhängende Freizeitpark der Welt auf Coney Island. Ein Rekord, der erst 1955 durch die Eröffnung Disney Lands übertroffen wurde und im Gegensatz zu den dortigen Fahrgeschäften waren jene auf Coney Island beileibe nicht nur spaßiger Natur, sondern zuweilen kurios und manchmal sogar bizarr. So war die Rolltreppe zwar bereits 1859 erfunden worden, einer breiteren Öffentlichkeit aber erst im Jahre 1895 bekannt geworden, als sie als Fahrgeschäft im Freizeitpark von Coney Island installiert wurde. Im Gegensatz zur Achterbahn übrigens genau mein Ding was Geschwindigkeit und den Höhenunterschied von sage und schreibe 2,10 Metern angeht, den der „Inclined Elevator“ (schräger Aufzug) damals überwand.
Zeitweise den größten Zulauf an Schaulustigen erzeugte aber die wohl merkwürdigste Attraktion, die es jemals in einem Freizeitpark gab: Die Inkubatoren-Ausstellung, die von 1903 bis 1943 besucht werden konnte. Der elsässische Arzt Martin Arthur Couney leistete damit Pionierarbeit bei der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. Er nutzte die bizarre Schaulust der Menschen dazu, um mit einer kostenpflichtigen Ausstellung von vielen Frühchen in von ihm entwickelten Inkubatoren, umgangssprachlich Brutkästen, das Leben zu retten. Die Besucher kamen in Scharen und mit dem Eintrittsgeld von 25 Cent pro Person generierte Couney so viel Kapital, dass er in all den Jahren etwa 7.500 Kindern das Leben in seinen Brutkästen retten konnte.
Der Eiffelturm von Brooklyn
Im Gegensatz zu Couneys äußerlich eher unscheinbarem Ausstellungshaus ragt das markanteste Bauwerk an der Promenade von Coney Island ganze 80 Meter in die Höhe. Der einem Übungsturm von Fallschirmjägertruppen nachempfundene Stahlturm trägt den Spitznamen Eiffelturm von Brooklyn und war tatsächlich mal ein Fahrgeschäft („Parachute Jump Thrill Ride“). Es handelte sich um eine Art früher Freefall-Tower, dessen Sicherheitsvorkehrungen alles andere als vorbildlich und letztlich auch für sein Aus als Attraktion verantwortlich waren. Absolut abenteuerlich und wieder nichts für mich, wie das folgende Video zeigt.
Wenigstens der breite Sandstrand und der Blick auf die Weiten des Atlantiks sorgen hier für Lichtblicke und spritziges Badevergnügen im Sommer. „Insgesamt aber bietet Coney Island heute das Bild einer gewöhnlichen, heruntergekommenen New Yorker Vorstadt“, schreibt jemand auf Wikipedia und trifft damit auch den Zustand des Freizeitparks auf den Punkt. Gekrönt wird die allgegenwärtige Tristesse freilich von den backsteinernen Wohnblöcken im Viertel hinter den Achterbahnen, Freefalltowers und verschiedenen Fisch-Restaurants die sich an der Promenade entlang ziehen und das wegen der zahleichen russischen und ukrainischen Einwanderer Little Odessa genannt wird.
Für die Zukunft hat die Stadt allerdings große Pläne mit Coney Island, soll der Promenade und der gesamten Neighborhood hier doch mehr Attraktivität verliehen werden – ausdrücklich im Konzept vertreten ist dabei auch die Belebung des alten Vergnügungsparks. Fluch und Segen sicherlich, denn wer New York kennt, weiß, dass hier geklotzt und nicht etwa gekleckert wird und der althergebrachte Charme Coney Islands dadurch wohl auf der Strecke bleiben wird und der betrunkene Großvater langsam aber sicher ausnüchtert – Kater inklusive…
„Under the Boardwalk“
Wenn ihr das ursprüngliche Coney Island-Feeling jetzt direkt erleben wollt, empfehlen wir euch noch, in einen Hit der legendären New Yorker Band „The Drifters“ hineinzuhören, die in „Under the Boardwalk“ ein Tête-à-Tête unterhalb der Planken der gut vier Kilometer langen Riegelmann Promenade von Coney Island besingen.